Zahl ukrainischer Deserteure steigt weiter – Bericht
Wegen der verheerenden Personalsituation beim ukrainischen Militär wird die Lage für Kiew immer brenzliger. Vor allem das Problem der Fahnenflucht führt dazu, dass Russland immer weiter vorrückt.
Von Alex Männer
Die Personalsituation in der ukrainischen Armee gilt nach fast drei Jahren Krieg gegen Russland mehr als kritisch. Denn die anhaltenden Kämpfe resultieren in erheblichen Verlusten auf der ukrainischen Seite, was zur Folge hat, dass Kiews Streitkräfte langsam, aber sicher ausbluten.
Nach Schätzungen sollen bislang mehr als 600.000 ukrainische Soldaten getötet oder verletzt worden sein. Freiwillige in der Ukraine, die zu Kriegsbeginn noch in großen Mengen gekommen waren, gibt es kaum noch. Stattdessen weigern sich immer mehr Ukrainer, den Kriegsdienst anzutreten und fliehen daher lieber ins Ausland oder ignorieren einfach die Einberufung. So berichtete die britische Zeitung The Financial Times in diesem Zusammenhang vor wenigen Monaten, dass schätzungsweise 800.000 ukrainische Männer wegen drohender Einberufung in die Armee in den „Untergrund“ gegangen seien.
Massive Fahnenflucht
Doch abgesehen davon besteht in der Ukraine auch das Problem des Fernbleibens der Soldaten von Verpflichtungen, weshalb bereits seit 2023 ein Anstieg der Fälle von Desertion beziehungsweise unerlaubtem Verlassen der Truppe konstatiert wird und was zu einer weiteren Verschlimmerung der ohnehin desaströsen Zustände innerhalb des Militärs führt.
The Financial Times schreibt dazu in einem kürzlich veröffentlichten Bericht, dass in der Ukraine zwischen Januar und November 2024 offiziell 60.000 neue Strafverfahren wegen Fahnenflucht eingeleitet worden sind. Das sei deutlich mehr als in den Jahren zuvor, heißt es. 2023 wurden noch 24.000 Verfahren registriert, 2022 waren es weniger als 10.000 Fälle.
Die hohen Desertionszahlen verschärfen zudem die militärische Lage für das Krisenland, so der Bericht. Demnach haben die ukrainischen Streitkräfte zunehmend Schwierigkeiten, ihre Einheiten aufzufüllen und ihre Soldaten zu versorgen, während Russland den Druck erhöht und immer mehr Territorien unter seine Kontrolle bringt. Dies führt zu großen Verlusten auf der ukrainischen Seite und schwächt die Kampfmoral in der Truppe.
Angesichts dessen schlagen ukrainische Politiker und Militärs längst Alarm. Laut der Abgeordneten der Werchowna Rada Anna Skorochod hätten sich seit Kriegsbeginn im Jahr 2022 etwa 100.000 Soldaten eigenmächtig von der Truppe entfernt, Tendenz steigend. Als Begründung führt Skorochod zum einen Fehler der ukrainischen Militärführung an. Viele Offiziere würden oft falsche taktische Entscheidungen treffen. Zum anderen seien viele Soldaten frustriert darüber, an vorderster Front eingesetzt zu sein, obwohl ihnen das militärische Wissen und die nötige Ausbildung fehlen. Zudem betrachten sie es als ungerecht, kämpfen zu müssen, während ihre Vorgesetzten sich hinter der Front aufhalten, so die Abgeordnete.
Auch der Vize-Kommandeur der ukrainischen Sondereinsatzkräfte, General Sergei Kriwonos, verweist auf das Problem der massiven Fahnenflucht und der Verweigerung von Befehlen in den ukrainischen Streitkräften. In einem Interview teilte er mit, dass nur etwa zehn Prozent der heute eingezogenen Rekruten am Ende wirklich an der Front ankommen.
Kiew mildert Strafen für Deserteure
Es ist schwer zu sagen, wie viele ukrainische Soldaten bislang wirklich desertiert sind, weil sich die Zahlen kaum verifizieren lassen. Wenn allerdings die Kiewer Politik beschließt, die Strafe für diejenigen abzuschwächen, die nach der Desertion den Dienst in der Armee wieder aufnehmen, muss das Problem bereits ein bedrohliches Ausmaß angenommen haben.
Darüber berichtete im Oktober unter anderem die Berliner Zeitung. Sie schreibt: „Das Parlament in der Ukraine hatte einen Gesetzesentwurf angenommen, der die Strafen für Deserteure mildert, damit die Hemmschwelle für sie gesenkt wird, zur Armee zurückzukehren. Demnach sollen Deserteure, die ihre Militäreinheit unerlaubt verlassen haben, nicht mehr sofort bestraft werden. Stattdessen wird den Fahnenflüchtigen 72 Stunden Zeit gegeben, um zur Truppe zurückzukommen. Falls die Soldaten dem Folge leisten, werden sie mit keinerlei Sanktionen belegt; Gehälter und anderweitige Leistungen dürfen sie dann ebenfalls wieder in Anspruch nehmen."
Trotzdem scheint eine Lösung für das Personalproblem angesichts der schwindenden militärischen Kräfte der Ukraine in weite Ferne zu rücken: Die Lage verschlechtert sich mit jedem Tag und die Erschöpfung der Soldaten nimmt weiter zu. Außerdem ist den meisten von ihnen längst klar, dass sie den russischen Truppen zahlenmäßig sowie bei der Anzahl der Waffen unterlegen sind und sie deshalb im weiteren Kriegsverlauf keine Chance haben. Aus diesem Grund und wegen der hohen Sterberate werden sich künftig wohl noch mehr Ukrainer weigern, an Kampfhandlungen teilzunehmen, während Russland vermutlich auch weiterhin in der Lage sein wird, Hunderttausende neue Soldaten zu rekrutieren.
Titelbild (Archiv): © Andreas Stroh/ZUMA Press Wire