In der Ukraine wächst die Wut auf die Mobilmachung
In Odessa wurde kürzlich ein Mann getötet, der dem ukrainischen Wehramt bei der Rekrutierung von Personal geholfen hatte. Bei dem mutmaßlichen Täter handelt es sich um einen ukrainischen Deserteur.
Von Alex Männer
Die Personalsituation in der ukrainischen Armee ist wegen der hohen Verluste mehr als kritisch. Freiwillige, die zu Kriegsbeginn noch in großen Mengen gekommen waren, gibt es kaum noch. Stattdessen verweigern immer mehr Ukrainer den Kriegsdienst.
Daher greift die Führung in Kiew bekanntlich schon seit geraumer Zeit zu drastischen Maßnahmen im Rahmen der ohnehin umstrittenen Mobilmachung in der Ukraine. Wie der sogenannten „Zwangsrekrutierung“, bei der die Ukrainer von den Mitarbeitern des militärischen Rekrutierungsdienstes etwa mit Gewalt zum Dienst in den Streitkräften eingezogen werden. Im Netz gibt es unzählige Videoaufnahmen, die die brutalen Aktionen der ukrainischen Wehrbehörde zeigen sollen. Kritiker berichten zudem von unrechtmäßigen Einberufungsbescheiden und davon, dass die Rekrutierungsoffiziere die Vorladungen und Einberufungen fast überall verteilen würden: auf der Straße, in der U-Bahn oder in Geschäften. Weshalb unter vielen Menschen in der Ukraine unlängst ein regelrechter Zustand der Angst herrsche, heißt es.
„Freiwilliger Helfer“ des Wehramtes in Odessa ermordet
Doch solch ein Vorgehen stößt zunehmend auf Widerstand der ukrainischen Bevölkerung, die ihre Wut zunehmend gegen die Wehrbehörde richtet. In diesem Zusammenhang gibt es bereits unzählige Meldungen über Übergriffe auf die Rekrutierungsbeamten oder deren Helfer – also auf jene Menschen, die die Mobilmachung überhaupt möglich machen.
So gab es erst vor Kurzem wieder einen Fall, der die vermeintliche Volksempörung verdeutlicht. Laut Medienberichten wurde am 15. März in Odessa ein Mann auf der Straße erschossen, der der ukrainischen Wehrbehörde freiwillig geholfen hatte, ukrainische Männer für die Front einzuziehen. Dabei handelt es sich um Demjan Ganul – einen Maidan-Aktivisten, der dem rechtsradikalen Lager zuzuordnen ist und in Russland sowie für zahlreiche Ukrainer als mutmaßlicher Organisator des Odessa-Massakers von 2014 gilt.
Ganul hatte unter anderem einen Fitnesstrainer aus Odessa im vergangenen Jahr verprügelt und diesen mit Gewalt an die Militärbehörden übergeben. Der Fitnesstrainer soll diversen Berichten zufolge vor der Übergabe auch sexuell missbraucht worden sein.
Nach dem Mord an Ganul kursieren im Internet Meldugen darüber, dass es sich bei dem Schützen um den Vater des Fitnesstrainers handeln soll. Doch laut offiziellen Angaben ist der mutmaßliche Täter ein 46-jähriger ukrainischer Soldat, der seine Militäreinheit im Februar unerlaubt verlassen hatte.
Die im Netz veröffentlichten Aufnahmen einer Überwachungskamera zeigen, wie der Angreifer auf der Straße in Odessa am helllichten Tag den bereits verletzten und offenbar bewusstlos am Boden liegenden Ganul durch einen Nahschuss in den Kopf hinrichtet, anscheinend unbeeindruckt von der Anwesenheit von Passanten und Überwachungskameras.
Der Mann wurde von der Polizei noch am selben Tag festgenommen. Er soll dabei eine Waffe und eine Handgranate mit sich geführt haben, teilten die ukrainischen Strafverfolgungsbehörden mit. Nach einem raschen Ermittlungsverfahren erhob die Staatsanwaltschaft gegen den Verdächtigen eine Anklage wegen vorsätzlicher Tötung einer Person, die von jemandem angewiesen wurde, berichten außerdem die ukrainische Medien.
Was bedeutet, dass die Tätigkeit Ganuls im Rahmen der Mobilmachung als Motiv offenbar nicht in Frage kommt. Allerdings könnte es sich auch um einen politischen Schachzug Kiews handeln: Auftragsmord, für den zum Beispiel Russland verantwortlich gemacht werden kann.
Protestaktion in vor dem Wehrersatzamt in Kowel
Ein anderer Zwischenfall im Zusammenhang mit der Rekrutierung – der die ukrainische Behörden ebenfalls in Alarmstimmung versetzte – ereignete sich im vergangenen August in der westukrainischen Kleinstadt Kowel (Region Wolhynien). Dort haben die Einwohner damals einen regelrechten Aufstand angezettelt, um die Einberufung von mehreren Personen zu verhindern. Dieser Vorfall wurde von den westlichen Medien weitgehend ignoriert, andere Medien berichteten aber darüber.
Demnach haben sich am Abend des 3. August Dutzende Menschen vor dem Gebäude des Wehrersatzamtes in Kowel versammelt, um die Freilassung von drei zwangsrekrutierten jungen Männern zu erzwingen. Am Vortag hatten dort die Mitarbeiter des Rekrutierungsdienstes eine Straßensperre errichtet und drei Einwohner der Stadt festgenommen, um sie für den Einsatz an der Front einzuziehen.
Die Polizei riegelte das Gebäude noch im Laufe des Abends ab und forderte die Menschen auf, den Protest zu beenden und sich zu zerstreuen. Die meisten Menschen blieben dort jedoch bis zum nächsten Morgen und hatten am Ende auch Erfolg: Die drei zwangsrekrutierten Ukrainer wurden freigelassen.
Ungeachtet dessen zog ein Teil der Protestler es vor, vor dem Gebäude des Wehrersatzamtes noch für mehrere Stunden zu verbleiben. Dabei skandierten die Menschen politische Parolen, die sich gegen die Politik der ukrainischen Regierung sowie die militärische Führung des Landes richteten. Später wurden mehrere Personen aufgrund dieser Aktion von der Polizei festgenommen.
Landesweiter Volksaufstand nicht zu erwarten
Der Protest in Kowel sowie andere Fälle zeigen, dass die Volksempörung über das Vorgehen der Rekrutierungsoffiziere sich längst nicht mehr nur auf Empörung in den Netzwerken beschränkt, sondern zunehmend in Gewalt auf der Straße mündet. Was jedoch überrascht, ist die Tatsache, dass auch die Protestaktionen im Westen der Ukraine zunehmen, wo die Bevölkerung – im Gegensatz zu den Menschen in der Ostukraine – als loyal zur heutigen Führung in Kiew gilt und etwa den Krieg gegen den Donbass und Russland befürwortet.
Allerdings sollte man nicht zu viel in solche Aktionen hineininterpretieren. Denn es geht den Protestlern höchstwahrscheinlich nicht um einen Politikwechsel im Land oder darum, dass andere Zwangsrekrutierte in anderen Regionen ebenfalls freigelassen werden. Stattdessen wollen sie lediglich ihre eigenen Leute vor den Kampfhandlungen bewahren.
Insofern ist nicht davon auszugehen, dass es in der Ukraine wegen der Mobilmachung zu einem Volksaufstand kommen könnte. Zudem fehlt es der Opposition und jenen Kräften im Land, die mit dem Vorgehen der Regierung nicht einverstanden sind, weder der politische Wille noch die Kraft und Bereitschaft, einen organisierenden und landesweiten Protest zu beginnen. Wobei es fraglich ist, ob sie überhaupt einen Führungswechsel in der Ukraine wollen. Denn dann müssten sie nämlich die Verantwortung für die Katastrophe in diesem Krisenland übernehmen.
Titelbild: Angehörige von ukrainischen Soldaten fordern angemessene Bedingungen für die Demobilisierung in der Ukraine, Kiew, 27. April 2024 © Sergey Dolzhenko/EPA